Augustinusregel

Die Prämonstratenser leben nach der Regel des heiligen Augustinus. Die Augustinusregel gilt als die älteste Ordensregel des Abendlandes und ist Vorbild für viele andere bekannte Ordensregeln (z.B. Benediktsregel). Ihr Verfasser ist der lateinische Kirchenvater und Bischof Augustinus von Hippo (354 – 430). In dieser Regel sah der Heilige Norbert von Xanten die Lebensweise der Apostel und das urkirchliche Ideal der geschwisterlichen Liebe, verbunden mit dem Leben in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam, am besten verwirklicht.
Bei der Augustinusregel ist mehr von einer Rahmenordnung als von einer Regel sprechen, da tatsächlich nur sehr wenige Fragen des klösterlichen Lebens genau geregelt werden. Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die Augustinusregel einen sehr geringen Umfang aufweist.
Das bestimmende Ideal einer Ordensgemeinschaft ist für Augustinus das Miteinander-Leben auf Gott hin. An diesem Ideal orientieren sich alle Richtlinien und Aufgaben des klösterlichen Lebens.

Daraus ergeben sich folgende Schwerpunkte
1. Das Miteinander im Kloster erfordert die Bereitschaft, Unterschiede zwischen den Mitbrüdern zu akzeptieren. Gemeinschaft ist keine Gleichmacherei: „Jedem soll das gegeben werden, was er braucht, aber nicht jedem in gleicher Weise, weil ihr nicht alle gleich seid.“
2. Klosterleben ist keine Leistung, sie entspringt der Gnade. Deshalb darf sich niemand etwas auf seinen klösterlichen Stand einbilden, weder weil jemand einen sozialen Aufstieg erfährt noch weil jemand auf eine bessere Lebensqualität verzichtet.
3. Gemeinschaft verlangt, das Gemeinsame über das Eigene zu stellen und nicht zuerst auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein. Daraus ergibt sich das Ideal der Gütergemeinschaft, das sich auf alle Lebensbereiche erstreckt (Nahrung, Einkommen, Kleidung, Bildung …).
4. Leben in Gemeinschaft ist nicht möglich ohne die Haltung der Vergebung: „Im Hinblick auf euer Beten müsst ihr einander vergeben, gerade weil ihr oft betet.“ Für Augustinus ist die Vergebung ein wesentliches Kriterium des Zusammenlebens: „Wenn einer nicht bereit ist zu vergeben oder um Vergebung zu bitten, so ist er ohne Recht in der Gemeinschaft, auch wenn man ihn nicht ausstößt.“
5. Großen Wert legt Augustinus auf die brüderliche Zurechtweisung. Sie ist für ihn ein Mittel für die innere Gesundheit einer Gemeinschaft. Wer auf diese Zurechtweisung verzichtet, gleicht einem Arzt, der einem Kranken die Heilung einer Wunde verweigert.
6. Die Aufgabe des Oberen wird charakterisiert durch die Haltung des Gehorsams im doppelten Sinn. Einerseits erfordert die Rolle des Oberen den Gehorsam der Mitbrüder, andererseits gehört es zur Pflicht des Oberen, seine Entscheidungen aus dem Hinhören auf Gott und die Mitbrüder zu treffen.

Augustinus versteht seine Regel als einen Spiegel, der den Mitbrüdern immer wieder die Gelegenheit gibt, ihr eigenes Leben zu überprüfen und an der Regel auszurichten.


DIE AUGUSTINUSREGEL

Kapitel 1 – Das Grundideal: Liebe und Gemeinschaft
Euch, die ihr eine Klostergemeinschaft bildet, tragen wir auf, folgendes in eurem Leben zu verwirklichen: Zu allererst sollt ihr einmütig zusammenwohnen (Ps 68,7), wie ein Herz und eine Seele (Apg 4,32) auf dem Weg zu Gott. Denn war das nicht der entscheidende Grund, weshalb ihr euch zum gemeinsamen Leben entschlossen habt?
Bei euch darf von persönlichem Eigentum keine Rede sein. Sorgt im Gegenteil dafür, dass euch alles gemeinsam gehört. Euer Oberer soll jeden mit Nahrung und Kleidung versorgen. Nicht, dass er jedem Einzelnen gleich viel geben müsste, denn im Hinblick auf die Gesundheit seid ihr nicht alle gleich, vielmehr soll jedem Bruder gegeben werden, was er persönlich nötig hat. So lest ihr ja in der Apostelgeschichte: Sie hatten alles gemeinsam, und jedem wurde so viel zugeteilt, wie er nötig hatte (Apg 4,32.35).
Die in der Welt etwas besaßen, als sie ins Kloster eingetreten sind, sollen Wert darauf legen, dass dies der Gemeinschaft übertragen wird. Die aber nichts besaßen, sollen im Kloster nicht das suchen, was sie sich draußen auch nicht leisten konnten. Dennoch soll man ihrer Mittellosigkeit entgegenkommen und ihnen alles geben, was sie nötig haben, selbst wenn sie zuvor so arm waren, dass sie nicht einmal über das Allernotwendigste verfügen konnten. Sie dürfen sich aber nicht schon deshalb glücklich schätzen, weil sie jetzt Nahrung und Kleidung bekommen, und das in einem Maß, wie sie es draußen nicht hätten erreichen können.
Sie dürfen sich ebenso wenig etwas darauf einbilden, dass sie jetzt mit solchen Menschen Umgang pflegen, denen sie sich früher nicht zu nähern wagten. Vielmehr soll ihr Herz nach Höherem streben und nicht nach irdischem Schein. Wenn sich in den Klöstern reiche Menschen demütigten, arme hingegen stolz würden, dann wären die Klöster nur für die Reichen von Nutzen, nicht aber für die Armen.
Andererseits dürfen jene, die in der Welt etwas zu sein schienen, nicht verächtlich auf ihre Brüder herabsehen, die aus ärmlichen Verhältnissen in diese heilige Gemeinschaft eingetreten sind. Sie sollen viel stärker darauf bedacht sein, sich des Zusammenlebens mit diesen armen Brüdern zu rühmen als der gesellschaftlichen Stellung ihrer reichen Eltern.
Auch dürfen sie nicht überheblich werden, wenn sie einen Teil ihres Vermögens der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt haben. Sonst könnten sie dem Hochmut eher zum Opfer fallen, wenn sie der Gemeinschaft Anteil an ihrem Reichtum gewähren, als wenn sie ihn selber in der Welt genießen würden. Denn während jede andere Fehlhaltung ihren Ausdruck nur in bösen Taten findet, trachtet der Hochmut darüber hinaus auch nach den guten Werken, um sie zunichte zu machen. Und welchen Sinn hätte es, sein Vermögen an die Armen zu verteilen und selbst arm zu werden, wenn das Wegschenken des Reichtums einen Menschen noch hochmütiger machen würde als der Besitz eines großen Vermögens?
Lebt also alle wie ein Herz und eine Seele (Vgl. Apg 4,32) zusammen und ehrt gegenseitig in euch Gott; denn jeder von euch ist sein Tempel geworden (Vgl. 2 Kor 6,16).

Kapitel 2 – Gebet und Gemeinschaft
Lasst nicht nach im Beten (Kol 4,2) zu den festgesetzten Stunden und Zeiten. Der Gebetsraum darf zu nichts anderem gebraucht werden als wozu er bestimmt ist; denn er trägt seinen Namen nicht ohne Grund. Dann können jene, die vielleicht auch außerhalb der festgesetzten Stunden beten wollen, dort in ihrer freien Zeit im Gebet verweilen, ohne von irgendeinem gestört zu werden, der meint, dort etwas anderes tun zu müssen.
Wenn ihr in Psalmen und Liedern zu Gott betet, dann sollen die Worte, die ihr aussprecht, auch in eurem Herzen lebendig sein. Haltet euch beim Singen an den Text, und singt nicht, was nicht zum Singen bestimmt ist.

Kapitel 3 – Die gemeinsame Sorge für das leibliche Wohl
Bezwingt euren Leib durch Fasten und Enthaltung von Speise und Trank, soweit es eure Gesundheit zulässt. Wer es nicht ohne Nahrung bis zur Hauptmahlzeit, die gegen Abend eingenommen wird, aushalten kann, darf vorher etwas essen und trinken, jedoch nur zur Stunde der sonst üblichen Mittagsmahlzeit.
Wer aber krank ist, darf jederzeit etwas zu sich nehmen.Hört vom Beginn bis zum Ende der Mahlzeit aufmerksam der üblichen Lesung zu, ohne euch dabei lauthals zu äußern oder gegen die Worte der Heiligen Schrift zu protestieren. Denn ihr sollt nicht nur mit dem Mund euren Hunger stillen, sondern auch eure Ohren sollen hungern nach dem Wort Gottes (Amos 8,11).
Einige haben als Folge ihrer früheren Lebensgewohnheit eine schwächliche Gesundheit. Wenn für sie bei Tisch eine Ausnahme gemacht wird, dürfen die Übrigen, die aufgrund anderer Lebensgewohnheiten kräftiger sind, dies nicht übel nehmen oder gar als ungerecht empfinden. Auch sollen sie nicht meinen, dass jene glücklicher sind, bloß weil sie bessere Speisen erhalten als die Übrigen. Sie sollen vielmehr froh sein, dass sie selber fertig bringen, wozu jenen die Kraft fehlt.
Einige waren vor ihrem Klostereintritt eine üppigere Lebensführung gewohnt und erhalten deswegen etwas mehr an Speise und Kleidung, ein besseres Bett oder zusätzliche Bettdecken. Die anderen, die kräftiger und somit glücklicher sind, bekommen dies nicht. Aber bedenkt dabei wohl, wie viel diese Brüder jetzt im Vergleich zu ihren früheren Lebensbedingungen entbehren müssen, selbst wenn sie nicht dieselbe Anspruchslosigkeit aufbringen können wie jene, die vom Leib her kräftiger sind. Nicht alle müssen das haben wollen, was sie andere zusätzlich bekommen sehen. Das geschieht ja nicht, um jemanden zu bevorzugen, sondern allein aus Rücksichtnahme. Andernfalls würde sich im Kloster der widersinnige Missstand ergeben, dass jene, die aus armen Verhältnissen kommen, ein verweichlichtes Leben führen, während die aus reichen Verhältnissen Stammenden alle möglichen Anstrengungen auf sich zu nehmen hätten.
Kranke müssen selbstverständlich eine der Krankheit angepasste leichte Kost bekommen; andernfalls würde man die Krankheit verschlimmern. Sobald aber die Besserung eintritt, sollen sie mit kräftiger Nahrung versorgt werden, damit sie sich so schnell wie möglich erholen, selbst wenn sie vor ihrem Klostereintritt zur ärmsten Schicht der Gesellschaft gehörten. Während der Genesungszeit sollen sie dasselbe erhalten, was den Reichen aufgrund ihrer früheren Lebensgewohnheit zugestanden wird. Sobald sie aber wieder zu Kräften gekommen sind, sollen sie von neuem anfangen, so zu leben wie früher, als sie glücklicher waren, weil sie weniger nötig hatten. Je schlichter die Lebensführung ist, desto besser passt sie zu den Dienern Gottes! – Wenn ein Kranker genesen ist, soll er sich in Acht nehmen, dass er nicht zum Sklaven der eigenen Behaglichkeit wird. Er muss auf die Vorrechte verzichten lernen, die seine Krankheit mit sich brachte. Diejenigen, die zu einem anspruchslosen Lebensstil am ehesten bereit sind, sollen sich für die reichsten Menschen halten. Denn es ist besser, wenig nötig zu haben als viel zu besitzen.

Kapitel 4 – Die gemeinsame Verantwortung füreinander
Seid nicht aufwändig gekleidet. Sucht nicht, durch eure Kleidung Gefallen zu erwecken, sondern durch eure Lebensführung.
Wenn ihr ausgeht, dann macht euch gemeinsam auf den Weg, und wenn ihr an den Ort gekommen seid, wo ihr hingehen wolltet, dann bleibt zusammen.
Euer Gehen und Stehen, euer ganzes Verhalten darf bei niemandem Anstoß erregen, sondern muss mit eurem heiligen Lebensstand in Einklang stehen.
Wenn ihr eine Frau seht, lasst euren Blick nicht lüstern auf ihr ruhen. Wenn ihr ausgeht, kann euch natürlich niemand verwehren, Frauen zu sehen, wohl aber ist es schuldhaft, eine Frau sexuell zu begehren oder von ihr begehrt werden zu wollen (Vgl. Mt 5,28). Denn nicht nur die Gebärden der Zuneigung, sondern auch die Augen erregen in Mann und Frau die Begierde zueinander. Behauptet also nicht, euer Herz sei rein, wenn eure Augen unrein sind, denn das Auge ist der Bote des Herzens. Und wenn man sich gegenseitig seine unkeuschen Absichten zu erkennen gibt, auch ohne Worte, nur indem man nach der anderen Ausschau hält, und wenn man an der zueinander entbrannten Leidenschaft Gefallen findet, dann ist – selbst wenn man sich nicht in den Armen liegt – von der echten Reinheit, nämlich der Reinheit des Herzens, schon keine Rede mehr.
Übrigens: Wer seine Augen nicht von einer Frau lösen kann und gern ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkt, soll nicht meinen, dass andere dies nicht wahrnehmen. Natürlich beobachten sie es, selbst Menschen, von denen ihr es nicht vermutet, sehen es. Aber selbst wenn es verborgen bliebe und von keinem Menschen bemerkt würde, wie willst du dich Gott gegenüber verhalten, der das Herz eines jeden prüft (Spr 24,12) und dem nichts verborgen bleiben kann? Oder sollte jemand etwa annehmen: „Der Herr wird es mir nachsehen“ (Ps 94,7), weil Gott ja in dem gleichen Maße, wie seine Weisheit die der Menschen übersteigt, auch mehr Geduld mit den Menschen aufbringt. Ein Gottgeweihter soll sich hüten, Gottes Liebe zu enttäuschen (Spr 25,18). Um dieser Liebe willen soll er keine sündhafte Liebe zu einer Frau unterhalten. Wer bedenkt, dass Gott alles sieht, wird keine Frau in sündhafter Absicht anschauen wollen. Denn durch das Wort der Schrift „Der Herr verabscheut ein lüsternes Auge“ (Spr 27,20) wird uns gerade in diesem Punkt Ehrfurcht vor seinem Willen ans Herz gelegt.
Wenn ihr also in der Kirche zusammen seid oder überall sonst, wo ihr auch mit Frauen zusammenkommt, dann fühlt euch gegenseitig für eure Reinheit verantwortlich. Dann wird Gott, der in eurer Gemeinschaft wohnt (Vgl. 2 Kor 6,16), euch durch eure Verantwortlichkeit füreinander beschützen.
Wenn ihr nun diesen lüsternen Blick, von dem ich spreche, bei einem Mitbruder bemerkt, dann ermahnt ihn sogleich, damit er sein Verhalten so schnell wie möglich bessert und das schon begonnene Unheil nicht noch schlimmer wird.
Sieht man aber nach einer solchen Ermahnung oder auch sonst, dass dieser Bruder doch wieder dasselbe tut, dann soll jeder, der das merkt, sein Herz als verwundet betrachten und um Heilung bemüht sein. Es steht dann niemandem mehr frei zu schweigen. Aber zunächst sollst du nur ein oder zwei weitere Personen darauf
aufmerksam machen, damit dieser Bruder durch die Aussage von Zweien oder Dreien von seinem Fehler überzeugt werden kann (Mt 18,15-17) und mit angemessener Strenge zur Ordnung gerufen wird. Du darfst nicht meinen, dass du böswillig handelst, wenn du das tust. Im Gegenteil: Du lädst Schuld auf dich, wenn du deine Brüder durch dein Stillschweigen ihrem Untergang entgegengehen lässt, während du sie doch auf den guten Weg zurückführen kannst, sobald du offenbarst, was du weißt. Nimm zum Beispiel an, dein Bruder hätte an seinem Leib eine Wunde und wollte sie aus Angst vor einem ärztlichen Eingriff verbergen. Wäre es nicht herzlos von dir, darüber zu schweigen? Und würde es demgegenüber nicht von Mitgefühl zeugen, dies bekannt zu machen? Um wie viel größer ist dann aber deine Pflicht, den Zustand deines Bruders offenzulegen, wenn du dadurch verhindern kannst, dass das Böse sein Herz weiter angreift; und das wäre viel schlimmer.
Will er nicht auf deine Ermahnung hören, dann soll man zunächst den Oberen zu einem Gespräch unter vier Augen hinzurufen, um dadurch die anderen noch herauszuhalten. Bessert er sich daraufhin noch nicht, dann darfst du andere hinzuziehen, um diesen Bruder von seinem Fehlverhalten zu überzeugen. Wenn er weiterhin bestreitet, soll man ohne sein Wissen weitere Personen verständigen, um ihn in Gegenwart aller durch die Aussage von mehreren auf sein Fehlverhalten hinweisen zu können (Vgl. 1 Tim 5,20), weil ja zwei oder drei eher jemanden überzeugen können als einer allein. Ist seine Schuld einmal erwiesen, dann soll der Obere oder der Priester, unter dessen Zuständigkeit das Kloster fällt, urteilen, welche Strafe er zur Besserung auf sich zu nehmen hat. Wenn er es ablehnt, sich dieser Strafe zu unterziehen, soll er aus eurer Gemeinschaft entlassen werden, auch wenn er selbst nicht austreten möchte. Auch dies geschieht nicht aus Herzlosigkeit, sondern aus Liebe. Denn dadurch beugt man vor, dass er andere durch seinen schlechten Einfluss ansteckt und ins Verderben zieht.
Was ich über die lüsterne Begierde gesagt habe, gilt in entsprechender Weise bei allen anderen Fehlern. Folgt derselben Verfahrensordnung gewissenhaft und treu beim Aufdecken, Verhindern, Ans-Licht-Bringen, Beweisen und Bestrafen anderer Sünden, und zwar mit Liebe gegenüber den betreffenden Menschen, aber mit Abkehr von ihren Fehlern.
Wenn ein Bruder spontan eingesteht, dass er schon so weit auf dem verkehrten Weg fortgeschritten ist, dass er im Geheimen von einer Frau Briefe empfängt oder Geschenke annimmt, dann soll man ihn schonend behandeln und für ihn beten. Wird er aber auf frischer Tat ertappt und für schuldig befunden, dann soll er nach dem Urteil des Priesters oder des Oberen zu seiner Besserung hart bestraft werden.

Kapitel 5 – Der Erweis von Diensten untereinander
Eure Kleidungsstücke sollen durch eine oder mehrere Personen als gemeinsamer Besitz betreut werden. Deren Aufgabe ist es, sie zu lüften und auszuklopfen, damit sie nicht von Motten zerfressen werden. Wie euer Essen aus einer gemeinsamen Küche kommt, so sollt ihr eure Kleidungsstücke auch aus einer gemeinsamen Kleiderkammer erhalten. Eigentlich sollte es euch gleich sein, welche Sommer- oder Winterkleidung ihr zugeteilt bekommt. Es sollte euch nichts ausmachen, ob man euch dasselbe Kleidungsstück aushändigt, das ihr abgegeben habt, oder eins, das schon ein anderer getragen hat, wenn nur keinem Bruder verweigert wird, was er notwendig braucht (Apg 4,35). Wenn dies bei euch Eifersucht und Unzufriedenheit hervorruft oder wenn gar einer sich beklagt, dass er jetzt ein Kleidungsstück erhalten habe, das minderwertiger sei als das, was er zuvor hatte, und wenn er es unter seinem Stand fände, Kleidungsstücke zu tragen, die schon ein anderer getragen hat, wäre das keine Lehre für euch? Wenn ihr um die äußere Ausstattung eures Leibes Streit bekommt, wäre das kein Beweis, dass an der inneren Ausstattung eures Herzens noch allerhand fehlt? Aber auch wenn ihr solch eine selbstlose Einstellung nicht aufbringen könntet und man euch dadurch entgegenkäme, dass ihr die von euch selbst getragenen Kleidungsstücke wiederbekommt, dann verwahrt sie trotzdem in einer gemeinsamen Kleiderkammer, wo andere für sie sorgen.
Der Sinn von all dem ist: Niemand möge bei seiner Arbeit auf seinen persönlichen Vorteil bedacht sein, sondern alles geschehe im Dienst der Gemeinschaft, und zwar mit mehr Eifer und größerer Begeisterung, als wenn jeder für sich selbst und zum eigenen Nutzen arbeiten würde. Denn über die Liebe steht geschrieben, dass sie nicht ihren Vorteil sucht (1 Kor 13,5), das heißt: Sie stellt das Gemeinschaftsinteresse über das Eigeninteresse und nicht umgekehrt. Die Tatsache, dass ihr mehr Sorge für die Belange der Gemeinschaft als für eure eigenen an den Tag legt, ist deshalb ein Prüfstein für euren Fortschritt. So wird sich in allem, was die vergängliche Not des Menschen betrifft, etwas Bleibendes und Überragendes zeigen, nämlich die Liebe (Vgl. 1 Kor 12,31 und 13,8.13; Eph 3,19).
Hieraus folgt, dass ein Mitbruder, der von seinen Eltern oder Angehörigen Kleidungsstücke oder andere notwendige Dinge bekommen hat, diese nicht heimlich für sich selbst zurückbehalten darf. Er muss sie dem Oberen zur Verfügung stellen. Einmal gemeinsamer Besitz geworden, soll der Obere diese Dinge demjenigen geben, der sie nötig hat (Vgl. Apg 4,35).
Bevor ihr eure Kleidungsstücke wascht oder in eine Wäscherei gebt, sollt ihr erst Rücksprache mit dem Oberen halten, um vorzubeugen, dass ein übertriebenes Verlangen nach reiner Kleidung euer Inneres verunreinigt.
Das Aufsuchen der öffentlichen Bäder darf von euch, wenn es aus Gesundheitsgründen nötig ist, niemals abgelehnt werden. Folgt in diesem Punkt ohne Widerspruch der Anordnung des Arztes; und selbst wenn ein Bruder zunächst ablehnt, soll er, notfalls auf Befehl des Oberen, trotzdem tun, was für seine Gesundheit notwendig ist. Wenn aber ein Bruder die öffentlichen Bäder nur zu seinem Vergnügen aufsuchen möchte, obwohl es die Gesundheit nicht erfordert, dann soll er von seinen Wünschen Abstand nehmen. Denn was Vergnügen bereitet, ist nicht immer angebracht, sondern kann auch schädlich sein.
Wie es im Einzelfall auch sein mag: Sobald ein Mitbruder sagt, dass er sich nicht wohl fühlt und Schmerzen hat, dann glaubt ihm ohne weiteres, selbst wenn die Krankheit noch nicht zum Ausbruch gekommen ist. Wenn ihr aber nicht sicher seid, ob die bevorzugte Behandlung, die er erbittet, zur Wiederherstellung seiner Gesundheit auch angebracht ist, dann fragt einen Arzt um Rat.
Sorgt dafür, dass ihr wenigstens zu zweit oder zu dritt seid, wenn ihr in die öffentlichen Bäder geht. Das gilt übrigens auch, wenn es nötig ist, anderswohin zu gehen. Und wählt dabei nicht selbst die Personen aus, die euch begleiten, sondern überlasst dem Oberen die Entscheidung, wer mitgehen soll.
Die Gemeinschaft soll einem der Brüder die Verantwortung für die Betreuung der Kranken übertragen. Der Gleiche soll sich auch um diejenigen Patienten kümmern, die auf dem Weg der Besserung sind, und um die gesundheitlich noch Schwachen, selbst wenn sie kein Fieber mehr haben. Der Krankenbruder darf für sie aus der Küche erbitten, was er für nötig erachtet.
Diejenigen, die mit der Sorge für die Küche, die Kleiderkammer oder die Bibliothek betraut sind, sollen ihren Mitbrüdern stets ohne Murren zu Diensten stehen.
Die Bücher könnt ihr täglich zur vereinbarten Zeit in Empfang nehmen. Außerhalb dieser Zeit werden sie nicht ausgehändigt, auch wenn ein Mitbruder darum bittet.
Wer hingegen für die Ausgabe von Kleidung und Schuhwerk verantwortlich ist, darf nicht zögern, sie zu jeder gewünschten Zeit an diejenigen auszuteilen, die sie notwendig brauchen.

Kapitel 6 – Die Beilegung von Konflikten aus dem Geist der Liebe
Seid nie untereinander zerstritten. Sollte es doch einmal zum Streit kommen dann macht so schnell wie möglich Schluss damit. Sonst wächst der Zorn zum Hass. Dann wird ein Splitter zum Balken (Vgl. Mt 7,3-5) und macht aus eurem Herzen eine Mördergrube. Denn es steht geschrieben: „Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Mörder.“ (1 Joh 3,15)
Wenn du einen Bruder verletzt hast, indem du ihn ausgeschimpft, verwünscht oder zu Unrecht schwer beschuldigt hast, dann denk daran, das Unheil, das du angerichtet hast, so schnell wie möglich durch deine Entschuldigung wiedergutzumachen; und der Bruder, der verletzt wurde, soll dir seinerseits ohne große Umstände verzeihen. Wenn sich zwei aber gegenseitig beleidigt haben, dann müssen sie sich auch gegenseitig ihre Schuld vergeben (Vgl. Mt 6,12); andernfalls wird euer „Vater unser“-Beten zur Lüge. Übrigens, je mehr ihr betet, desto ehrlicher und aufrichtiger wird euer Gebet sein müssen. Man kann besser mit einem Bruder auskommen, der zwar schnell wütend wird, dies aber auch schnell wiedergutmacht, sobald er einsieht, dass er einem anderen Unrecht getan hat, als mit einem anderen, der weniger aufbrausend ist, der aber auch nur zögernd bereit ist, seine Entschuldigung anzubieten. Wer aber nie um Verzeihung bitten will oder dies nicht von ganzem Herzen tut (Vgl. Mt 18,23), gehört nicht in ein Kloster, selbst wenn man ihn nicht aus der Gemeinschaft entlässt. Hütet euch also vor verletzenden Worten. Wenn sie doch gefallen sind, dann seid nicht bange, das heilende Wort mit demselben Mund zu sprechen, der die Verletzung verursachte.
Es kann jedoch vorkommen, dass die notwendige Sorge für den rechten Gang der Dinge jemanden von euch zwingt, harte Worte gegenüber Minderjährigen zu gebrauchen, um sie zur Ordnung zu rufen. In diesem Fall wird von euch nicht verlangt, dass ihr sie dafür um Verzeihung bittet, auch wenn ihr selber das Gefühl habt, dass ihr dabei zu weit gegangen seid. Denn wenn ihr euch gegenüber diesen Jüngeren durch übertriebene Demut als zu unterwürfig erweist, schadet ihr damit der Autorität, die ihnen die nötige Leitung zu geben hat und der sie sich zu unterwerfen haben. Bei solchen Gelegenheiten sollt ihr allerdings den Herrn aller Menschen um Verzeihung bitten, der weiß, wie sehr ihr auch jene schätzt, die ihr vielleicht mit zu großer Strenge behandelt habt. Eure Liebe zueinander darf nicht in der Selbstsucht stecken bleiben; sie muss sich vielmehr vom Geist Gottes leiten lassen.

Kapitel 7 – Amtsführung und gehorsames Dienen
Gehorcht eurem Oberen (Hebr 13,17) so wie einem Vater, aber auch mit dem gebührenden Respekt, der ihm aufgrund seines Amtes zusteht; andernfalls verfehlt ihr euch gegen Gott in ihm. Das gilt noch mehr für euer Verhalten gegenüber dem Priester, der für euch alle die Verantwortung trägt.
Es ist in erster Linie Aufgabe des Oberen, dafür zu sorgen, dass man alles, was hier gesagt ist, auch verwirklicht und dass man Übertretungen nicht achtlos übergeht. Es ist seine Aufgabe, auf fehlerhaftes Verhalten hinzuweisen und für Besserung zu sorgen. Was seine Befugnisse und Kräfte übersteigt, soll er dem Priester vorlegen, weil dessen Amtsautorität in bestimmter Hinsicht größer ist als seine.
Euer Oberer soll sich nicht deshalb glücklich schätzen, weil er kraft seines Amtes gebieten (Vgl. Lk 22,25-26), sondern weil er in Liebe dienen kann (Vgl. Gal 5,13). Aufgrund eurer Hochachtung soll er unter euch herausgehoben sein, doch aufgrund seiner Verantwortlichkeit vor Gott soll er sich als der Geringste von euch einschätzen. Allen soll er durch gute Werke ein Beispiel geben (Tit 2,7): Er soll diejenigen, die ihre Arbeit vernachlässigen, zurechtweisen, den Ängstlichen Mut machen, sich der Schwachen annehmen, mit allen Geduld haben (1 Thess 5,14). Er selber soll die Richtlinien der Gemeinschaft in Ehren halten und auch bei den anderen auf Beachtung drängen. Wiewohl beides in gleicher Weise nötig ist, soll er mehr darauf bedacht sein, von euch geliebt als gefürchtet zu werden. Er soll stets daran denken, dass er vor Gott für euch Rechenschaft ablegen muss (Hebr 13,17).
Indem ihr aus Liebe gehorcht, stellt ihr unter Beweis, dass ihr nicht nur mit euch selbst Erbarmen habt (Sir 30,23), sondern auch mit eurem Oberen. Denn auch für eure Gemeinschaft gilt: Je höher einer gestellt ist, desto größer ist die damit verbundene Gefahr!

Kapitel 8 – Ermahnung zum Schluss
Der Herr gebe, dass ihr, ergriffen vom Verlangen nach geistlicher Schönheit (Sir 44,6), dies alles mit Liebe befolgt. Lebt so, dass ihr durch euer Leben den lebensweckenden Wohlgeruch Christi verbreitet (Vgl. 2 Kor 2,15). Lebt nicht als Sklaven, niedergebeugt unter dem Gesetz, sondern als freie Menschen unter der Gnade (Vgl. Röm 6,14-22).
Einmal pro Woche soll diese Regel vorgelesen werden. Sie ist wie ein Spiegel: Ihr könnt darin sehen, ob ihr etwas vernachlässigt oder vergesst (Vgl. Jak 1,23-25). Wenn ihr findet, dass ihr dem entsprecht, was darin steht, dann dankt dem Herrn, dem Spender alles Guten. Bemerkt einer aber, dass er hinter dem zurückgeblieben ist, was hier verlangt wird, dann soll er bereuen, was geschehen ist, und in Zukunft auf der Hut sein. Er bete: Vergib mir meine Schuld und führe mich nicht in Versuchung (Mt 6,12f).